Pawlodar, Kasachstan, 19 Juni 2016
Draußen vor den Fenstern zieht sich die unglaubliche Weite der kasachischen Steppe hin. Bis zum Horizont ist kein Baum zu sehen, nur seichte Hügelketten in der Ferne. Zwischendurch eine Pferde- oder Kuhherde, ein Raubvogel oder ein paar Reiter. Gerade sehen wir davon aber leider nichts, da die Fenster des Busses, in den uns unsere letzten Gastgeber bugsiert haben, mit orangen Gardinen verhangen sind. Dafür sind wir aber gestern so intensiv in die kasachische Kultur eingetaucht, dass das die orangen Vorhänge hundertfach aufwiegt. Aber dazu später mehr, denn auch auf dem Weg hierher ist viel passiert.
Also zurück nach Moskau. Nachdem wir dort über verschiedene Autobahnauffahrten gehuscht waren, setzten wir unseren Weg Richtung Osten fort. Zunächst mit Olek, der uns erklärte, er sei ein russischer Gangster. Wir versuchten das geschickt zu ignorieren, um nicht in irgendwelche dubiosen Geschäfte gezogen zu werden und mieden den Blick auf die selbstgestochene Tätowierung auf seinem linken Handrücken. Außer dem insgesamt recht robusten Fahrstil fühlten wir uns sicher bei Olek. Vielleicht auch, da er uns, beeindruckt davon, dass wir uns mit unserem kleinen palatka (Zelt) furchtlos den metvet (Bären) stellten, mit dem größten Respekt behandelte.
Nach einer weiteren Fahrt sahen wir dann auch unserer ersten Nacht neben der Tankstelle im Zelt entgegen. Die Bären stellten kein Problem dar, wohl aber die Mücken, die in Scharen um uns schwirrten und uns mit militantem Gesumm antrieben, das Zelt, ohne Diskussion über die notwendige Anzahl der Heringe, in Rekordschnelle aufzubauen.
Leider gab es am nächsten Morgen keinen Kaffee an der Tankstelle, dafür aber den netten Vladimir, der mit uns in Kolonne mit zwei LKWs, und der dadurch gebremsten Geschwindigkeit überaus entspannt Richtung Cheboksary juckelte. Vladimir fuhr als Begleitung der LKWs mit Landbaumaschinen aus Holland in einem kleinen PKW bis nach Vladivostock! 19 Tage! Was der Sinn dieser Art der Begleitung war, verstanden wir aber nicht so richtig…
Also wieder mal das Zelt aufgebaut und die Nacht ohne Besuch von Bären oder Wölfen überstanden, trafen wir an einer Raststätte auf Renaz und John und wir hätten es nicht besser treffen können! Renaz fuhr Richtung Kasan und konnte im Gegensatz zu unseren vorherigen Fahrern ein bisschen Englisch sprechen. Vor allem aber fuhr er uns mit unglaublichem Enthusiasmus und guter Laune Richtung Chistobal, wo seine Mutter uns zu traditionellen tatarischen Küchlein (denn Chistobal liegt in Tatarstan) einlud und wir seine beste Freundin Lera kennenlernten, die super Englisch sprach. Die beiden zeigten uns also die eher kleinere Stadt und wir lernten, dass Tatarstan die ökonomisch stärkste Region Russlands ist, c.a. 50% der Bevölkerung dort muslimisch und der Rest überwiegend russisch orthodox ist, und dass Tatars eine eigene Sprache ist.
Später lud Lera uns dann ein, im Haus ihrer wundervollen Tante zu bleiben, die in einem süßen, typisch russischen Holzhäuschen wohnt. Wir bekamen leckere Erdbeeren aus dem Garten und mit Leras Hilfe als Top- Übersetzerin erzählte ihre Tante von ihren eigenen Reisen, als sie noch jung war. Später kamen dann Leras Freunde vorbei und wir stellten fest, dass Tee trinken und Schischa rauchen unter Tataren äußerst angesagt ist. Nachdem wir am nächsten morgen leckere Blinis (Buchweizenpfannkuchen) von Leras Tante verspeist hatten, ging es auf zum Bus, um zurück auf unsere Route zu gelangen. Und der erste Schreckmoment der Reise: Jeroens Passport unauffindbar. Nachdem also Renaz und Alina im Eiltempo zurück zur Tante düsten und Lera schon versuchte, den Busfahrer zu überzeugen, noch etwas zu warten, kam die Erleichterung. Der Passport war nur in eine Innentasche gerutscht! Also alles wieder zurück gepfiffen, ein paar letzte Abschiedsfotos und weiter Richtung Osten.
Der freundliche Kamil, der uns von einer Tankstelle aufließ, an der sonst niemand hielt und uns aus purer Nächstenliebe bis zur Kreuzung nach Ufa fuhr, fasste in Worte, oder besser gesagt, in unsere Übersetzter App was auch wir auf unserer Reise fühlten „Ich glaube, alle Menschen sind erst einmal gut, nur manchmal tun sie Schlechtes. Ich versuche dann trotzdem, das Gute zu sehen.“ So philosophisch erleuchtet bestätigte sich dieses Motto auch gleich wieder, als kurze Zeit später Evgeny für uns hielt und uns ein herausragendes Beispiel des Guten im Menschen gab. Er nahm uns mit über eine Entfernung von 850 km, die er nach Chelyabinsk fuhr, wir lernten zusammen Englisch und Russisch, er zeigte uns die besten Aussichtspunkte, trotz der Tatsache, dass man nichts sehen konnte, da Nacht war, lud uns zu leckerem Borschtsch ein und half dann auch noch spontan, einen Zug nach Astana in Kazakhstan zu organisieren! Für Evgeny als Installateur von Überwachungskameras in Supermärkten war es normal jeden Woche tausende von Kilometern zurückzulegen, da seine Firma das ganze Gebiet von Moskau bis Omsk mit Kameras versorgte. Ganz schön verrückt die Entfernungen in Russland!
Neben der Größe des Landes beeindruckt auch die Größe der Flüsse, allen voran die Wolga und, wahrscheinlich am meisten, die Größe der Absätze. Grob geschätzt erreicht, worauf so manch eine Dame hier durch die Gegend wandelt, mindestens eine Höhe von 25 cm. Im Verhältnis zur Absatzhöhe haben wir bisher wenige schuhbasierte Unfälle beobachtet – nur einen. Doch auch mit verstauchten Knöchel wurde weiter tapfer in Eiffelschuhen getorkelt.
Im Gegensatz zu dieser Folter, der viele russische Frauen tapfer entgegen sehen, war unser Aufenthalt im Zug erstaunlich gemütlich. Die tausend Kilometer nach Astana verbrachten wir, neben einigem Wachgerüttel bei der Grenzkontrolle, vor allem liegend und wären auch gern noch weiter gefahren. Zum Glück hatten wir noch in Chelyabinsk Sergey und Nathalia um einen Schlafplatz über couchsurfing gebeten und waren froh uns entschieden zu haben, nach Kasachstan zu reisen. Die beiden machten unseren Aufenthalt in Astana zu einem wahren Erlebnis und gaben uns einen gewaltigen Eindruck der kasachischen Gastfreundlichkeit. So fuhren wir mit Citybikes an den verrückten Gebäuden der Stadt vorbei, die in knappen 15 Jahren aus dem Nichts, bzw. aus der Steppe gestampft wurden. Die Stadt wird im Winter manchmal so kalt und zugeschneit, dass die Stadtgrenzen von der Polizei gesperrt werden, um hohe Kosten durch Rettungsaktionen zu meiden. Das war schwer vorstellbar, während wir mit Sonnencreme eingeschmiert im T-Shirt durch die Stadt cruisten. Nach zwei sehr erholsamen Nächten und gutem Essen bei Sergey und Nathalia machten wir uns weiter auf den Weg Richtung Osten, um dort ein weiteres Beispiel kasachischer Gastfreundlichkeit kennen zu lernen.
Als wir mit dem Bus Astana verließen, bemerkten wir, dass in Kasachstan, nicht nur die Gastfreundlichkeit sondern auch die Neugier eine ausgeprägte Charaktereigenschaft zu sein scheint. So kamen verschiedene Autofahrer, auch die, die in die falsche Richtung fuhren, auf uns zu, um zu erkunden, was wir da so trieben. Zum Glück sind wir mittlerweile einigermaßen in der Lage unsere Reise auf Russisch zu erklären. So nahm uns auch kurze Zeit später ein Auto mit. Auch hier mussten wir gleich wieder an Kamils Motto denken, hatten wir doch hier einen Fahrer erwischt, der uns gegenüber unglaublich freundlich war, uns dann aber auch fragte, ob wir nicht zufällig Globaliersierungsagenten seien, und dann seine nationalistischen Tendenzen und vor allem ausgeprägte Homophobie durchblicken ließ. Wir fühlten uns etwas geschmeichelt, als Agenten gesehen zu werden, waren aber auch ein bisschen traurig. Nach Europa wolle er nicht reisen, da seien alle schwul. Außerdem seien die Niederlande ein Drogenland. Nun ja…Wir hielten uns an Kamils Motto: „Allle Menschen sind erstmal gut, aber manchmal tun sie Schlechtes…“
Der Fahrer versuchte uns noch zu überzeugen nicht die von uns gewählte Route, kürzer aber über kleine Straßen, zu nehmen sondern ihn in die nächst größere Stadt zu begleiten, da dort mehr Verkehr unterwegs sei. Aber wir waren auf Abenteuer aus und entschieden uns also es dennoch zu versuchen. Nach einer halben Stunde an der staubigen Straße und keinem einzigen Auto, dass abbog, verloren wir dennoch langsam den Mut. Wir hatten aber Unterhaltung, denn ein liegengebliebener Bus auf der anderen Straßenseite, war voll mit neugierigen Kasachen, die sich nach anfänglicher Zurückhaltung nicht scheuten, uns Gesellschaft zu leisten und Fragen über unsere Reise zu stellen.
Glücklicherweise befand sich außerdem in der Nähe eine kleine Polizeistation, die es hier zu Hauf gibt und so versuchten wir die Polizisten nach dem besten Weg zu fragen. Dort erfuhren wir, dass die von uns gewählte Route gar nicht so schlecht war, aber mit einem verzweifelt gestikulierenden „Nie maschina“ (kein Auto) machten wir deutlich, dass der Versuch für uns bisher erfolglos war. Der freundliche Polizeibeamte bot daraufhin an, uns über die leergefegte Straße zu einer besseren Kreuzung zu fahren und tat dies auch, nachdem sein Auto nach mehrmaligen Versuchen schließlich ansprang. So fuhren wir also, den armen vor dem Bus wartenden Herren fröhlich zuwinkend, mit Blaulicht weiter Richtung Pavlodar.
Die neue Kreuzung eignete sich auch tatsächlich viel besser zum Weitertrampen und so waren wir auch schon nach wenigen Mitfahrgelegenheiten im Auto von Sertay und Alma, womit die zweite Geschichte kasachischer Gastfreundlichkeit, diesmal auf dem Lande, beginnt. Sertay und Alma schienen sich nicht daran zu stören, dass wir kein Russisch sprachen und unterhielten sich fröhlich mit uns und zeigten uns die Landschaft. Schließlich luden sie uns dann auch gleich zu Tee und Fisch bei Verwandten in einem nahegelegenen Dorf ein. So aßen wir leckeren selbstgefangen Fisch, tranken kasachischen Tee und versuchten so gut wie möglich unsere paar Brocken russisch zusammenzukratzen, um etwas mit unseren Gastgebern zu kommunizieren. Damit aber noch nicht genug, als wir später mit den beiden weiter Richtung Pavlodar fuhren und es schon 18 Uhr war, als wir bei ihrem Dorf ankamen, luden sie uns auch gleich ein, bei ihnen zu bleiben.
Aber dazu später, denn nur ein Tag mit Sertay und Alma vesorgte uns mit Erlebnissen für eine ganze Woche. Als wir an einer Gruppe Reitern in der Steppe vorbei fuhren und zunächst weiterfuhren, überwiegte doch schnell die kasachische Neugier und Sertay kehrte um, um Bestimmung und Vorhaben der Reiter zu erkunden. Das führte dazu, dass wir sogleich als Werbemodelle für eine Kampagne des Nationalparkes herhalten mussten. So wurden wir interviewt, wobei immer besonders wichtig war, dass wir „Kasachstan choroscho“(Kasachstan ist gut) sagen. Linda durfte dann auch noch Reiten, aber nicht ohne vorher eine Flagge, des Nationalparkes um den Kopf gewickelt zu bekommen, und natürlich vor der Kamera.
Schliesslich kamen wir in Sertay und Almas kleinem Dorf Radnikovsky an, mitten in der Steppe am Kanal Irtisch-Karaganda gelegen, der sich angeblich von China bis nach Russland zieht. Sertay fuhr sich immer wieder -eine eindeutige Geste- mit dem Finger über die Kehle und machte dazu „Mäh“. Als er dazu noch mit leuchtenden Augen „Schaschlik“ sagte, wurde uns deutlich, er wolle ein Lamm schlachten. Wir versuchten noch mit aller Kraft zu erklären, sie sollten bloß keine Umstände für uns machen, wurden dann aber erstmal beschäftigt, als eine Reihe von Leuten aus dem Dorf vorbei kamen, um die Touristen einmal anzuschauen. Zum Glück kam auch Gulmira, die Schwiegertochter, die perfektes Englisch sprach. Sie nahm uns mit auf einen Spaziergang durch das kleine Dorf, wobei sie von ihrer Hochzeit, die erst ein paar Monate her war, und den Herausforderungen und Schönheiten, sich an das neue Leben auf dem Lande, nachdem sie als Lehrerin in der Stadt gearbeitet hatte, zu gewöhnen. Sie zeigte uns auch ihr Haus und gab uns dort eine Art Pferdebuttermilch zu trinken, die sehr interessant und außergewöhnlich schmeckte. Wir tranken beide brav auf.
Als wir vom Spaziergang zurückkehrten, saß Sertay seelenruhig auf der Gartenbank und wir hofften schon, dass wir ihn nur falsch verstanden hatten. Diese Hoffnung wurde aber gleich zerschlagen, als wir die Küche betraten und das Lamm schon zerlegt vor Alma auf dem Küchentisch lag. Sertay hatte uns wohl diplomatisch weggeschickt, um nicht die zartbesaiteten Gemüter von uns Westeuropäern zu belasten. Wir meinten noch ein paar flüchtig weggewischte Blutspritzer an der Wand zu entdecken.
Es wurde also ein Festmahl zubereitet und ein paar weitere Leute aus dem Dorf kamen vorbei, um die Attraktion, zwei Touristen und laut Gulmiras Berichten wohl die einzigen je, zu begrüßen. Alma hatte groß aufgefahren und rannte mit Nudelholz und Kopftuch durch die Küche um neben Pferdewurst und Lammschaschlik auch noch ein traditionelles kasachisches Teiggericht zuzubereiten.
Es wurde gespeist und getrunken, wobei die arme Gulmira als Übersetzerin herhalten musste, als Sertay immer wieder kurze Reden über Freunde und Gastfreundschaft, auf die mit Wodka angestoßen wurde, hielt. Es war ein schönes Fest und alle gingen schlafen, nachdem Sertay zerknirscht erklärte, er habe einfach nicht die Zeit gefunden, die Sauna noch anzuheizen.
Gestärkt nach einem guten Frühstück sind wir also am nächsten morgen in den Bus gestopft worden, da sich unsere bemühten Gastgeber nicht damit zufrieden geben wollten, uns einfach auf die Straße zu setzen. Hinter orangen Gardinen verlassen wir die Familie in tiefer Dankbarkeit und sind mittlerweile in Pavlodar angekommen, wo wir spontan als couchsurfer bei Yura und Svetlana, mit ihren 5 süßen Kindern aufgenommen wurden. Ein bisschen Schlaf wäre jetzt gut.