Qingdao, September 2016
Was wir vorher noch für unmöglich gehalten hatten, sollte mit Dan Realität werden: Fahrradfahren in Beijing, ohne dabei das Leben zu verlieren. Dan, seine Frau Kathy, und ihre Mitbewohnerin Morgan beherbergten uns in Beijing nach unserer Rückkehr von der chinesischen Mauer. In China herrscht ein wildes Verkehrsgesetz. Ampeln gibt es nur zur Zierde und angeblich wird Chinesen beigebracht beim Fahren immer nur geradeaus zu gucken. Dan versicherte uns, wenn wir uns auch daran hielten, würde nichts passieren. Wir waren nicht ganz überzeugt aber nachdem wir von Dan mit Fahrrädern und noch viel wichtiger Fahrradhelmen, versorgt worden waren, düsten wir mit Herzrasen hinter ihm durch die Stadt, natürlich nicht nur geradeaus sondern panisch hin und her schauend, zum Essensmarkt.
Der Markt ist auch für die meisten Chinesen eher eine Touristenattraktion als dass dort für’s Abendbrot geshoppt wird, denn auf dem Markt gibt es tatsächlich die größten Perversitäten, die die chinesische Küche so zu bieten hat: Zum Grillen lebendig aufgespießte Skorpione, Heuschrecken und Käfer, die noch lange zappeln, bevor sie dann tatsächlich auf dem Grill landen. Besonders überflüssig grausam waren auch die gegrillten Kükenfetusse. Dazu wird ein Spieß durch ein Ei mit einem beinahe ausgewachsenen Küken gesteckt und das ganze danach auf den Grill gelegt. Wir hatten eigentlich vor, auf dem Markt etwas zu filmen, waren dann aber doch zu abgeschreckt von den Grausamkeiten, mit denen die Spezialitäten zubereitet wurden. Überhaupt scheinen Tiere keinen besonders guten Stand in China zu haben. Dabei ist das Problem nicht mal, dass tatsächlich alles was kreucht und fleucht gegessen wird, sondern vielmehr das Warten auf den Tod in viel zu kleinen Käfigen, Aquarien oder Schaufenstern. Tiere scheinen von vielen in China nicht als fühlende Lebewesen wahrgenommen zu werden. Babyschildkröten kann man in winzig kleinen Döschen an einer Kette auch einfach als kleines Assescoire kaufen. Vielleicht beruhigend ist dabei, dass die meisten Leute, die diese Schmuckstücke kaufen, die Tiere befreien wollen. Wohl auch nicht die beste Strategie, um gegen den Missbrauch der Tiere anzugehen, aber nach buddhistischem Brauch bringt das Befreien von Tieren wohl Glück. Auf der chinesischen Mauer beispielsweise trafen wir eine muntere Familie deren zwei Jungs im Grundschulalter kleine Eidechsen in Plastikflaschen gesperrt hatten. Die armen Tiere wurden in den Flaschen beim Rumtragen und Spielen der Jungs durchgeschüttelt. Auf unser Eingreifen hin, wurde uns erklärt, die Familie habe die Tiere ja nur gefangen, um sie dann zu Hause frei zu lassen. Zum Glück schienen sie ihre Meinung zu ändern und ließen die Eidechsen doch schon auf der Mauer wieder frei.
Auch in Qingdao, unser nächster Aufenthaltsort, war die Grausamkeit an Tieren ein konstanter Begleiter. Qingdao ist bekannt für seine Meeresfrüchte und auch die Fische, Schildkröten und andere Spezialitäten, teilweise schon halb tot im Aquarium, hätten den in China leider nicht existierenden Tierschutz sicherlich interessiert. Ein Tierschutzgesetz gibt es ausschließlich für Wildtiere und beschränkt sich mehr oder weniger darauf, dass vom Aussterben bedrohte Arten geschützt werden sollen. Aber genug von diesen Grausamkeiten und außerdem der Hinweis, dass der pro Kopf Tierkonsum in China immer noch unter dem in Deutschland liegt und daher zumindest pro Person etwas weniger Grausamkeiten geschehen. Übrigens exportiert Deutschland auch fleißig Fleisch nach China. Das Fleisch hatte dann aber bestimmt, vielleicht zumindest in Deutschland noch ein viel, ein bisschen besseres Leben als in China. Wir exportieren aber vor allem Schweinefüße und so Ekelkram, den keiner essen will – da sieht man ja wohlmöglich noch, dass das mal ein Tier war. Der Bedarf an leckeren Schnitzeln, liebevoll in Form gepresst, wird dann einfach importiert. Ganz nebenbei erwähnt, geht außerdem der Fleischkonsum in Deutschland eher runter, während die Fleischproduktion weiter hochgeht. Wenn man sich dabei das Bewusstsein für Tierrechte z.B. in China vor Augen führt, ist das sicherlich auch nicht unbedingt im Sinne des Konsumentendruck, um die Produktionsbedingungen zu verbessern. Und man könnte noch endlos darüber schreiben, wie der deutsche Fleischmarkt für weltweiten Hunger sorgt, aber wie gesagt, vorerst genug von solchen Grausamkeiten.
Wir machten uns also auf den Weg nach Qingdao und mussten dazu erst einmal raus aus Beijing. Das Vorhaben schien schwieriger als zunächst gedacht, zumal es auch noch in Strömen regnete. Nach verschiedenen Bussen und einer Tour durch ein wildes Gebüsch, kamen wir aber schließlich an, an der Straße, die Richtung Osten führte. Sogleich hielt auch ein kleiner roter Landrover mit einer netten Chinesin drin, die aber leider fast kein Wort Englisch sprach. Wir versuchten ihr deutlich zu machen, sie könne uns einfach an ihrer Ausfahrt rauslassen, sie hatte sich aber in den Kopf gesetzt uns weiter zu helfen. „Help you! Help you!“ rief sie immer wieder. Das wurde zu einer etwas riskanten Angelegenheit, da sie auf dem Seitenstreifen geparkt hatte und mit wild fuchtelnden Armen versuchte, ein Auto für uns zu stoppen. Wir überzeugten sie davon, dass wir es auch alleine schaffen würden und machten uns, als sie davon fuhr auf in sicherere Gefilde, wo wir auch kurz darauf schon eine weitere Mitfahrgelegenheit ergatterten.
Als der Abend nahte, waren wir mit einigen weiteren Mitfahrgelegenheiten nach Jinan gelangt. Unsere Begleiter hatten sich auch besondere Mühe gegeben uns weiter zu helfen und hatten an jeder Raststätte gestoppt, um ein Auto für uns zu finden, mit dem wir weiter Richtung Qingdao fahren könnten. Leider blieben die Bemühungen erfolglos. An einer Autobahnmautstation, an der die beiden in die Stadt fuhren, versicherten wir ihnen, wir würden es einfach von dort am nächsten Morgen weiter versuchen, denn es war schon spät abends. Nach langem hin und her und unserem Versprechen wir würden uns an die Polizeistation wenden, zogen unsere beiden freundlichen Fahrer davon und wir uns in die Büsche. Wir haben uns dann einfach trotzdem nicht an die Polizeistation gewandt sondern fanden nach einer kleinen Kraxelpartie die Autobahn runter einen gemütlichen Zeltplatz an einem kleinen Weg. Wie sich am nächsten Morgen, an dem langsam ungewohnt viele ältere Menschen vorbei zuckelten, herausstellte, war unser Zeltplatz nicht nur an einem gemütlichen Weg sondern auch direkt vor einem Friedhof. Einige der älteren Damen und Herren fuhren gemütlich mit ihren Rollern vorbei, andere schlurften hinter ihren Rollatoren. Besonders putzig war eine ältere Dame, die alle Neuankömmlinge mit weit ausholenden Gesten auf uns hinwies und zunächst wohl nicht so erfreut über die nächtlichen Besucher war. Vielleicht dachte sie, wir hätten ein teuflisches Ritual durchgeführt oder ähnliches- bei den Ausländern kann man ja nie wissen. Am Ende lächelte aber auch sie uns freundlich an und reichte uns sogar die Hand, vielleicht auch glücklich darüber nun eine neue Geschichte erzählen zu können. Inwieweit diese der Wahrheit entsprechen würde, konnten wir nur ahnen.
Wir krabbelten also wieder hoch zur Autobahnmautstelle und erreichten am Abend Qingdao. Wir hatten den östlichsten Punkt unserer Reise erreicht. Kurioserweise war Qingdao eine ehemalige deutsche Kolonie und neben einer Brauerei „Tsingtao“, die die Deutschen seinerzeit aufgebaut hatten, gab es auch jede Menge deutsche Gebäude. Wir fühlten uns schlecht, weil es sich etwas gut anfühlte wieder so viel Vertrautes zu sehen, obwohl der Grund für die Anwesenheit dieser vertrauten Gebäude nicht gerade einen glorreichen Teil der europäischen Geschichte wiederspiegelt. Die Chinesen schienen sich aber eher einen Spaß daraus zu machen. So bauten sie eine der Kirchen auch einfach nochmal neu und diese wurde zum beliebten Hintergrund für Hochzeitsfotos. Wir zählten 13 Bräute, die zur gleichen Zeit, mit Ehegatten natürlich, auf dem Kirchplatz posierten. Dies wurde begleitet von stündlich erklingenden elektronischem Glockengeläut vom Kirchturm und Highlight waren auch Fotos vor einem Baum, der ununterbrochen von einem alten Herren geschüttelt wurde. Das gab wahrscheinlich irgendeine Art Special Effect auf den Fotos. Überhaupt schien sich in Qingdao alles um Hochzeitsfotos zu drehen. So entdeckten wir auch eine Art Hochzeitsfotomall. Während die Stadt sich an sich nicht besonders um den Erhalt alter Gebäude zu scheren scheint, waren in dieser Hochzeitsfotomall alle möglichen alten deutschen Gebäude unter einem künstlichen Himmel, der sich von rosarotem Sonnenuntergang bis Sternenhimmel entwickelte, wie in einer Filmkulisse nachgestellt. Auch am Strand in Laoshan war das Hauptmotto schöne Hochzeitsfotos. Es gab auch dort eine Art Fotokulissenpark, mit holländischer Windmühle, Cadillac und allen möglichen anderen Spielereien. Am Strand tanzten Pärchen Hand in Hand durch die Wellen, mit fliegenden Kleidern und lachten der Kamera ins Gesicht. Auch Jeroen und ich tanzten also hüpfend durch die Wellen, um nicht zu sehr als Fremde aufzufallen.
Nicht nur die Kolonialvergangenheit Qingdaos weckte Heimatgefühle in uns. Unsere wunderbare chinesische Couchsurfing Gastgeberin Mia, nahm uns auch mit zu einer Party „Berlin Calling“, versteckt in einer Tiefgarage! Mehr Berlin geht ja kaum, der DJ kam allerdings ursprünglich aus Hamburg. So tanzten wir mit ein paar Tsingtao Bieren die Nacht hindurch und begannen gleich zu Hause ein bisschen weniger zu vermissen. Auch bei Dai, einer weiteren Gastgeberin in Qingdao, bei der wir seit längerer Zeit mal wieder Jeroens niederländische Lieblingsspeise Stampot, eigentlich nur eine Art Kartoffelbrei, aber für einen Niederländer herzerwärmend, kochen konnten, kamen heimatliche Gefühle auf und die begeisterte Erkenntnis: Stampot lässt sich auch mit Stäbchen essen!
Jeroen hatte dann auch die glorreiche Idee in Qingdao eine Beachparty als couchsurfing Event zu starten. Auf Mias Anraten hin, luden wir also so ziemlich alle couchsurfer in Qingdao zur spektakulären Beachparty am Silver Beach ein. Für die meisten eine Anreise von etwa 2 Stunden aus Qingdaos Zentrum. Aber sieh da, sieh da, es kamen sage und schreibe 6 motivierte Partygäste, Mia und wir zwei mit inbegriffen. Dass heißt, zumindest nachdem wir uns alle gefunden hatten. Der Silver Beach war nämlich so abgelegen, dass er ab 7 Uhr abends stockfinster war und wir hatten natürlich weder Kerzen, geschweige denn irgendeine Art von Partybeleuchtung. Wir versuchten dann genaue Beschreibungen von nahegelegenen Lichtpunkten aus zu liefern und schließlich kamen wir alle auf einer Decke zur Beachparty zusammen. Der Abend war nett, es wurde aber nicht getanzt.
In Qingdao warteten wir auf das pakistanische Visum, welches uns die Wiederkehr in den Westen ermöglichen würde. Pakistan ist das einzige Land, über das man Indien auf dem Landweg erreichen kann, doch leider erhält man das Visum nur im Heimatland. Es waren schon zehn Tage vergangen und wir hofften unsere Pässe nach etwa 3 Wochen mit Expressversand wieder in den Händen zu halten. Doch wir hatten unsere Rechnung ohne die unfreundliche Bearbeiterin der pakistanischen Botschaft Berlin gemacht. Die Bearbeiterin zweifelte stark an unserer Intelligenz: „Wie kommt man überhaupt auf die verrückte Idee aus China ein Pakistanvisum zu beantragen!“. Unsere Emails wurden nicht beantwortet und nachdem Linda letztendlich endlich die Bearbeiterin per Telefon erreichen konnte (das war wahnsinnig schwierig mangels stabiler Internetverbindung) und nach den Emails fragte, wurde sie nur angeblafft: „Ich habe ja gar keinen Computer!!!“. Wir verschickten die Emails also erneut, diesmal nicht an die online verzeichnete Adresse der Visa Bearbeiterin sondern an die Adresse der Rezeption, die anscheinend über einen Computer verfügte. Antworten bekamen wir dennoch nicht, aber bei unserem nächsten Anruf zumindest die Information, die Visa Bearbeiterin habe die Email gelesen, es gäbe aber pakistanische Feiertage und daher werde die Bearbeitung sich verzögern.
Wir vertrieben uns die Zeit also damit ein Lied zu dichten und ein kleines Video über unsere chinesischen Foto- und WeChat Erfahrungen zu machen. WeChat, die Chinesen sagen immer weecheeee mit einem begeisterten Lächeln, ist eine Art chinesisches facebook. Da facebook genauso wie google, youtube und vieles mehr in China geblockt ist, haben die Chinesen ihre eigenen Alternativen entwickelt. Mit jedem Foto, um das wir gebeten wurden, häuften sich auch unsere WeChat Bekanntschaften und schon bald hatten wir ein ganzes Bündel WeChat Freunde mit denen wir außer einem netten Selfie leider wenig gemeinsam hatten. Wir waren dennoch erfreut, über die Chinesen, die sich uns auf diese Weise näherten, denn zwar selten aber doch manchmal entwickelte sich auch ein nettes Gespräch daraus.
Nach ein paar Nächten bei Mia, schlugen wir noch für eine letzte Nacht in Qingdao unser Zelt am Golden Beach auf. Vor uns also die wilde See und hinter uns Sand und Luxusappartments. Kurze Zeit darauf realisierten wir, dass die wilde See in der Nacht eventuell unser Zelt überfluten würde und bauten das Zelt also noch etwas weiter hinten auf. Nässe gab es dann nur von oben und nach einem letzten Frühstuck unter einem Strandpavillon machten wir uns hoffnungsvoll auf, unsere Pässe bei Lee Fangs Schwester abzuholen. Der Kurierdienst war leider verspätet, aber Sissy Lee in ihrem Verhandlungsgeschick so professionell, dass wir die Pässe direkt in ein Restaurant geliefert bekamen, in dem wir zusammen mit ihr und einer Freundin, Huiwen Zheng, zu Mittag aßen. Nach etwas mehr als einem Monat hatten wir die Pässe wieder sicher in den Händen. Die Freude war groß!
Sissy Lee war anscheinend von ihrem großen Bruder (der uns nach Beijing gefahren hatte) dazu verdonnert worden, sich so gut wie irgendwie möglich um uns zu kümmern. Gegen unsere großen Proteste organisierten die beiden dann sogar den Einkauf im Supermarkt für uns. Während die eine den Einkaufswagen schob, wuselte die andere durchs Geschäft um die besten Produkte zu finden. Wir hatten viel Spaß mit den beiden und als Höhepunkt halfen sie uns auch noch die letzten Shots für unser WeChat Song Video aufzunehmen. Wir fühlten uns schon schlecht, da die beiden sich so überaus rührend und engagiert um uns kümmerten und so ein paar Stunden in der Uni verpassten. Zu allem Überfluss eskortierten sie uns aber auch noch zu einem super Trampspot an der Autobahnauffahrt. Wir verabschiedeten uns mit großer Dankbarkeit für alle Hilfe und machten uns in Vorfreude auf die Heimat und Wehmut über den Abschied von der Weite des Pazifik und von all den netten Begegnungen so weit im Osten wieder auf in Richtung Westen.